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In Serbien haben seit November 2024 massive Proteste stattgefunden, die sich gegen die Regierung und insbesondere gegen Präsident Aleksandar Vučić richten. Diese Protestbewegung, die als die größte seit dem Sturz von Slobodan Milošević im Jahr 2000 gilt, wurde durch den Einsturz eines Bahnhofsvordachs in Novi Sad am 1. November 2024 ausgelöst, bei dem 15 Menschen ums Leben kamen.
Das Unglück wird von vielen Serben als Symbol für tief verwurzelte Korruption, Misswirtschaft und staatliches Versagen gesehen. Was mit Demonstrationen von Studierenden begann, hat sich zu einer landesweiten Bewegung entwickelt, die mittlerweile verschiedene Gesellschaftsschichten – von Lehrern und Landwirten bis hin zu Veteranen – umfasst. Der Einsturz des frisch renovierten Bahnhofsvordachs in Novi Sad war der zentrale Auslöser. Das Unglück führte zu sofortiger Empörung, da viele Bürger Korruption und Schlamperei bei Bauarbeiten als Ursache vermuteten. Kurz nach dem Vorfall traten der Bauminister Goran Vesić und der Bürgermeister von Novi Sad, Milan Đurić, zurück, was jedoch die Wut der Bevölkerung nicht besänftigte. Studierende begannen Universitäten zu besetzen und Straßen zu blockieren, um Transparenz und die strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen zu fordern. Die Proteste breiteten sich schnell von Novi Sad und Belgrad auf andere Städte aus, darunter Niš und Čačak.
Die Demonstranten richten ihre Kritik nicht nur auf den konkreten Vorfall, sondern auf das gesamte politische System unter Vučić. Sie fordern die Offenlegung aller Dokumente zur Renovierung des Bahnhofs, die Strafverfolgung der Verantwortlichen für den Einsturz sowie derjenigen, die Demonstranten angegriffen haben. Zudem verlangen sie die Einstellung von Verfahren gegen während der Proteste festgenommenen Personen.Ein Ende der Korruption, die viele als allgegenwärtig empfinden, sowie die Stärkung unabhängiger Institutionen. Die Proteste zielen nicht primär auf den Rücktritt einzelner Politiker, sondern auf eine grundlegende Reform des Staates.
Ein oft zitiertes Banner lautet: „Es ist besser, das Land zu verändern, als es zu verlassen“ – ein Hinweis darauf, dass viele Serben, insbesondere junge Menschen, nicht mehr auswandern, sondern aktiv etwas ändern wollen.
Die Proteste haben seit November an Dynamik gewonnen. Im Dezember 2024 versammelten sich über 100.000 Menschen in Belgrad, was als historische Demonstration galt. Studierende haben Fakultäten besetzt, Lehrer und andere Berufsgruppen sind in Streiks getreten, und Bauern haben mit Traktoren Straßen blockiert. Am 15. März 2025 fand in Belgrad die bisher größte Kundgebung statt, bei der Zehntausende aus dem ganzen Land teilnahmen. Drohnenaufnahmen zeigten eine Stadt, deren Zentrum von Demonstranten überflutet war. Gleichzeitig kam es immer wieder zu Spannungen. Anhänger der Regierungspartei SNS (Serbische Fortschrittspartei) und regierungsnahe Schlägertrupps haben Protestierende angegriffen, einige wurden absichtlich mit Autos angefahren. Die Polizei nahm zahlreiche Demonstranten fest, was den Zorn weiter schürte. Dennoch betonen die Organisatoren, vor allem Studierende, ihren gewaltfreien Ansatz und rufen zu Disziplin auf. Die Regierung unter Vučić steht unter enormem Druck.
Am 28. Januar 2025 trat Ministerpräsident Miloš Vučević zurück – ein Schritt, der als Versuch gewertet wird, die Proteste zu entschärfen. Vučević bleibt jedoch im Amt, da keine Neuwahlen oder Regierungsneubildung erfolgt sind, was die Demonstranten als Hinhaltetaktik kritisieren. Vučić selbst schwankt in seiner Rhetorik zwischen Dialogangeboten und harten Tönen. Er hat die Protestierenden als „faul“, „ausländische Söldner“ oder „Verräter“ bezeichnet und westliche Geheimdienste für die Unruhen verantwortlich gemacht – eine Narrative, die auch von Kremlchef Wladimir Putin unterstützt wurde.
Trotz dieser Repressionsdrohungen zeigt die Bewegung keine Anzeichen von Schwäche. Im März 2025 belagerten Demonstranten den staatlichen Sender RTS, den sie als Sprachrohr der Regierung sehen, und im Parlament zündete die Opposition aus Protest Tränengas und Rauchgranaten.Die Proteste sind bemerkenswert durch ihre Breite und Vielfalt. Neben Studierenden beteiligen sich Veteranen, Lehrer, Anwälte und Landwirte. Laut Umfragen unterstützen über 60 % der Bevölkerung die Bewegung. Sie wird oft mit den Protesten gegen Milošević verglichen, unterscheidet sich jedoch durch ihren Fokus auf Rechtsstaatlichkeit statt bloßem Machtwechsel. Viele sehen darin eine Chance für einen „demokratischen Neuanfang“, auch wenn unklar bleibt, ob die zersplitterte Opposition die Energie in politische Erfolge ummünzen kann.
Die EU und Deutschland stehen in einer ambivalenten Position. Einerseits unterstützen sie Serbien wegen des geplanten Lithium-Abbaus, der für die Energiewende wichtig ist, andererseits fordern sie die Regierung auf, das Demonstrationsrecht zu respektieren. Kritiker werfen dem Westen vor, Vučić trotz seines autoritären Stils zu stützen, um geopolitische Interessen zu wahren. Posts in den sozialen Medien zeigen zudem eine Abwesenheit von EU-Flaggen bei den Protesten, dafür aber serbische, orthodoxe und teils russische Symbole, was auf eine komplexe patriotische Strömung hinweist.
Die Proteste haben bereits erste Erfolge erzielt – Rücktritte und eine breite gesellschaftliche Mobilisierung –, doch Vučić bleibt an der Macht. Experten sehen zwei Szenarien, entweder führt der Druck zu Neuwahlen und Reformen, oder die Regierung greift repressiver durch, was die Lage weiter eskalieren könnte. Die Entschlossenheit der Demonstranten, angeführt von einer jungen Generation, deutet darauf hin, dass der Konflikt noch lange nicht entschieden ist. Serbien steht an einem Scheideweg und die kommenden Wochen könnten entscheidend sein.