Titelbild U-Bahnhof Kasumigaseki Lizenz 3.0
Am 20. März 1995 verübte die japanische neureligiöse Gruppierung Ōmu Shinrikyō, im deutschsprachigen Raum oft als „Aum-Sekte“ bekannt, einen der verheerendsten Terroranschläge in der modernen Geschichte Japans. Während der morgendlichen Hauptverkehrszeit setzten Mitglieder der Sekte das tödliche Nervengas Sarin in der Tokioter U-Bahn frei. Dieser Anschlag führte zu 13 Todesopfern, über 6.000 Verletzten und einem landesweiten Trauma, das bis heute nachwirkt. Im Folgenden wird der Vorfall ausführlich beschrieben, einschließlich Hintergrund, Ablauf, Folgen und der Rolle der Sekte.
Ōmu Shinrikyō wurde 1984 von Shōkō Asahara damals noch Chizuo Matsumoto gegründet. Asahara, ein teilweise erblindeter Mann mit einem charismatischen Auftreten, begann zunächst mit einer Yoga-Gruppe, die sich später zu einer religiösen Bewegung entwickelte. Die Lehren der Sekte waren eine krude Mischung aus Elementen des Buddhismus, Hinduismus, Taoismus und Christentums, gepaart mit apokalyptischen Visionen. Asahara sah sich selbst als Reinkarnation Buddhas und prophezeite seinen Anhängern wiederholt das nahe Ende der Welt, das nur seine Anhänger überleben würden. Die Sekte zog vor allem junge, gebildete Menschen an, darunter Wissenschaftler und Elitestudenten, die von Japans materialistischem Fortschritt desillusioniert waren.
Bis 1995 hatte die Sekte etwa 10.000 Mitglieder in Japan und weitere 30.000 in Russland, wo sie nach dem Zerfall der Sowjetunion durch aggressive Medienkampagnen Fuß fasste. Bereits vor dem U-Bahn-Anschlag war Ōmu Shinrikyō in kriminelle Aktivitäten verwickelt, darunter der erste dokumentierte Sarin-Anschlag in Matsumoto im Juni 1994, bei dem sieben Menschen starben. Dieser sollte die Richter eines Grundstücksstreits treffen, in den die Sekte verwickelt war.
Die Gruppe experimentierte zudem mit verschiedenen chemischen Waffen wie VX-Gas, Botulinumtoxin und Cyanwasserstoff und verübte Anschläge auf Aussteiger, Journalisten und rivalisierende religiöse Führer.Der Anschlag auf die Tokioter U-Bahn war sorgfältig geplant und sollte nach Ansicht vieler Experten eine geplante Polizeirazzia gegen das Sektenhauptquartier am Fuji verhindern. Die Gruppe hatte ein hochentwickeltes Waffenprogramm aufgebaut, unterstützt durch Mitglieder mit wissenschaftlichem Hintergrund, darunter Chemiker wie Seiichi Endo und Masami Tsuchiya. Das Sarin, ein geruchloses und unsichtbares Nervengift, wurde in den Labors der Sekte selbst hergestellt, obwohl die Qualität im Vergleich zu militärischem Sarin minderwertig war – was die Zahl der Todesopfer relativ niedrig hielt, verglichen mit dem potenziellen Schaden.
Fünf Sektenmitglieder wurden für die Ausführung des Anschlags ausgewählt: Ikuo Hayashi ,ein ehemaliger Kardiologe, Kenichi Hirose, Toru Toyoda, Masato Yokoyama und Yasuo Hayashi. Sie erhielten den Auftrag, das Giftgas in fünf verschiedenen U-Bahn-Linien freizusetzen, die durch das Regierungsviertel Kasumigaseki führen – ein strategisch wichtiger Ort, da dort viele Ministerien ansässig sind. Das Sarin wurde in flüssiger Form in Plastikbeutel gefüllt, die in Zeitungen eingewickelt und mit Regenschirmen mit angespitzten Enden transportiert wurden.Am Montag, dem 20. März 1995, einem klaren Frühlingstag, begaben sich die fünf Attentäter während des Berufsverkehrs gegen 8 Uhr morgens in die U-Bahn. Jeder von ihnen trug einen Beutel mit etwa 600 bis 900 Gramm Sarin-Flüssigkeit.
In den Zügen der Linien Chiyoda, Marunouchi und Hibiya durchstachen sie fast gleichzeitig die Beutel mit ihren Schirmen, sodass das Gift verdampfen und sich in den Waggons sowie an den Bahnsteigen verbreiten konnte. Die Linien waren überfüllt mit Pendlern, die auf dem Weg zur Arbeit waren, was die Wirkung des Anschlags maximierte.Die Auswirkungen traten sofort ein. Fahrgäste berichteten von einem beißenden Geruch verursacht durch Verunreinigungen im selbstgemachten Sarin, Atemnot, Krämpfen und Sehproblemen. Viele brachen auf den Bahnsteigen zusammen, rangen nach Luft oder erbrachen sich. Augenzeugen wie die damals 26-jährige Kiyoka Izumi beschrieben ein Gefühl, als würde ihnen „die Luft wegbleiben“ und ein „Vakuum“ entstehen. Bahnmitarbeiter, die versuchten, die Flüssigkeit aufzuwischen, wurden ebenfalls ohnmächtig.
Innerhalb weniger Minuten verwandelten sich die U-Bahn-Stationen in chaotische Krisenszenarien, während Rettungskräfte in Schutzanzügen und Soldaten der japanischen Armee anrückten.Der Anschlag forderte 13 Menschenleben – eine Zahl, die angesichts der über 6.000 Verletzten relativ gering erscheint, was auf die geringe Reinheit des Sarins zurückzuführen ist. Dennoch erlitten viele Opfer schwere Langzeitschäden, darunter neurologische Probleme, Sehbehinderungen und posttraumatische Belastungsstörungen. Einige können bis heute nicht arbeiten oder leben in Pflegeeinrichtungen. Die japanische Regierung wurde später dafür kritisiert, den Überlebenden keine ausreichende Unterstützung zu bieten.Die Polizei reagierte schnell.
Zwei Tage nach dem Anschlag, am 22. März, durchsuchten 2.500 Beamte 25 Sektenstützpunkte landesweit. Asahara wurde am 16. Mai 1995 verhaftet, nachdem er sich wochenlang versteckt hatte. Die Ermittlungen deckten das Ausmaß der kriminellen Aktivitäten der Sekte auf, einschließlich früherer Anschläge und eines Arsenals an chemischen und biologischen Waffen.In einem der längsten und aufwendigsten Gerichtsverfahren Japans wurden Asahara und zwölf weitere Sektenmitglieder wegen des U-Bahn-Anschlags und anderer Morde ,insgesamt 27 Todesfälle, zum Tode verurteilt. Asahara zeigte während des Prozesses keine Reue und murmelte oft unverständlich vor sich hin. Die letzten flüchtigen Mitglieder, darunter Katsuya Takahashi und Naoko Kikuchi, wurden erst 2012 gefasst, 17 Jahre nach dem Anschlag.Die Hinrichtungen der 13 Verurteilten zogen sich über Jahrzehnte hin.
Am 6. Juli 2018 wurde Asahara zusammen mit sechs weiteren Mitgliedern gehängt, gefolgt von den restlichen sechs am 26. Juli 2018. Diese Massenhinrichtungen waren die größten in Japan seit über einem Jahrhundert und lösten gemischte Reaktionen aus. Während einige Opferangehörige Erleichterung empfanden, warnten Experten vor einer möglichen Märtyrerrolle Asaharas für verbleibende Anhänger.Der Anschlag erschütterte das Vertrauen der japanischen Gesellschaft in ihre Sicherheit und stellte die Behörden vor die Frage, wie eine derart gefährliche Gruppe so lange unentdeckt operieren konnte. Ōmu Shinrikyō wurde nicht verboten, sondern benannte sich im Jahr 2000 in „Aleph“ um und existiert in abgeschwächter Form weiter, ebenso wie Splittergruppen. Die japanische Polizei hält diese Gruppen unter strenger Beobachtung.
Literarisch wurde der Vorfall unter anderem von Haruki Murakami in seinem Buch „Untergrundkrieg: Der Anschlag von Tokyo“ verarbeitet, das Interviews mit Opfern und Hinterbliebenen enthält. Es verdeutlicht die tiefen Narben, die das Ereignis hinterlassen hat – sowohl bei den Betroffenen als auch in der kollektiven Psyche Japans.
Der Sarin-Anschlag von 1995 bleibt ein Mahnmal für die Gefahren extremistischer Ideologien und den Missbrauch wissenschaftlicher Kenntnisse. Er zeigt, wie eine kleine, aber entschlossene Gruppe eine moderne Metropole ins Chaos stürzen kann.
Dreißig Jahre später, am heutigen 20. März 2025, wird in Tokio weiterhin der Opfer gedacht, während die Gesellschaft versucht, die Lehren aus diesem dunklen Kapitel zu ziehen.