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Münster, Deutschland
Das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs im katholischen Bistum Münster ist deutlich größer als bisher bekannt. Aus den Akten des Bistums ergebe sich eine Zahl von 610 Missbrauchsopfern und damit über ein Drittel mehr, als in der 2018 präsentierten MHG-Studie der Deutschen Bischofskonferenz erfasst wurden, teilte Westfälische Wilhelms-Universität Münster (WWU) am Montag mit. Münsters Bischof Felix Genn räumte Mitverantwortung für das Leid von Missbrauchsopfern ein.
Die fünf Forscher der WWU arbeiteten unabhängig. Im Unterschied zu Studien anderer Bistümer wie zuletzt etwa Köln sowie München und Freising sind die Wissenschaftler keine Juristen, sondern Sozialanthropologen und Historiker. Studienleiter Thomas Großbölting sagte, dadurch erhoffe er sich, einen besseren Blick auf die Zusammenhänge von Missbrauchstaten hergestellt zu haben. Dem Bistum bescheinigte Großbölting, dass es bei der Studie „gut unterstützt“ habe.
Die an der Studie beteiligte Historikerin Natalie Powroznik sagte, die 610 Opfer seien nur das Hellfeld, das sich aus den Akten ergebe. Aus vergleichbaren Fällen sei von einem Dunkelfeld auszugehen, das acht- bis zehnmal so groß sei. Es gebe also „etwa 5000 bis 6000 betroffene Mädchen und Jungen“ im Bistum Münster, der Missbrauch habe flächendeckend in dem vom nördlichen Ruhrgebiet bis tief nach Niedersachsen reichenden Bistum stattgefunden.
An den 610 namentlich bekannten Opfern seien von insgesamt 210 Priestern mindestens 5700 Einzeltaten sexuellen Missbrauchs verübt worden. Es handle sich keineswegs nur um Einzeltaten, fünf Prozent der pädophilen Priester seien Serientäter mit mehr als zehn Opfern. Über 90 Prozent der pädophilen Täter seien strafrechtlich ungeschoren davon gekommen.
In der Hauptphase der Taten – die 60er und 70er Jahre – habe es in den Gemeinden des Bistums Münster im Durchschnitt zwei Missbrauchstaten durch Priester pro Woche gegeben. Drei Viertel der Opfer seien Jungen, ein Viertel Mädchen, der Großteil zwischen zehn und 14 Jahre alt. Zu vielen Taten sei es an Messdienern gekommen oder bei Kinder- und Jugendfreizeiten. Die Mehrheit der Opfer habe eine sehr enge kirchliche Bindung gehabt.
Die Studienmacher berichteten von zum großen Teil massiven Missbrauchstaten mit bis ins hohe Erwachsenenalter reichenden erheblichen psychischen Folgen für die Opfer bis hin zu Depressionen und Suizidgedanken. Bei 27 der namentlich bekannten Missbrauchsopfer im Bistum Münster seien Hinweise auf Suizidversuche gefunden worden.
Powroznik sagte, immer wieder hätten Priester den Missbrauch zu einer „gottgefälligen“ Handlung umgedeutet. Viele Opfer hätten sich nicht getraut, über die Taten zu reden. Der größte Teil der Fälle sei erst ab dem Jahr 2010 und damit mit Bekanntwerden des Missbrauchskandals der katholischen Kirche bekannt geworden.
Der Münsteraner Bischof Felix Genn will sich am kommenden Freitag ausführlich zu der Studie äußern. In einer ersten Reaktion erklärte er: „Ich übernehme selbstverständlich die Verantwortung für die Fehler, die ich selbst im Umgang mit sexuellem Missbrauch gemacht habe. Ich war und bin Teil des kirchlichen Systems, das sexuellen Missbrauch möglich gemacht hat.“
Zu möglichen persönlichen Konsequenzen äußerte sich Genn nicht. Einem möglichen Rücktritt müsste allerdings Papst Franziskus zustimmen – beim Münchner Kardinal Reinhard Marx und beim Hamburger Erzbischof Stefan Heße hatte Franziskus Rücktrittsangebote zurückgewiesen, im Fall des wie Marx und Heße schwer belasteten Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki steht eine Entscheidung zu einem Rücktrittsangebot noch aus.
Die Studienmacher warfen dem seit 2009 in Münster als Bischof tätigen Genn Versäumnisse vor. Wenn ein Missbrauchstäter Reue gezeigt habe, sei Genn kirchenrechtlich nicht immer konsequent vorgegangen. Erst in jüngerer Zeit werde in Münster konsequent vorgegangen. Massive Vorwürfe machten die Forscher dem verstorbenen Bischof Reinhard Lettmann, der immer wieder auch als pädophil bekannte Priester in der Seelsorge eingesetzt habe.
ran/cfm
© Agence France-Presse